„Wie geht es denn meinem Onkel Idris?“ fragte ich meine Mutter und Schwester, die vor dem Handybildschirm in dem niederen Teil der Welt saßen. Meine Schwester erinnerte mich daran, dass er vor drei Jahren gestorben ist. Damit sie vom Gespräch ablenkten kann, fragte sie mich lachend über die Bluse, die ich trug: „Tiegermuster? Hahaha, du hast immer schon dieses Modell gehasst“. Ich wunderte mich, guckte auf den gestreiften Ärmeln und spürte die Furcht. Wie habe ich sie denn gekauft und warum? Ich erinnere mich nicht mehr.
„Frau Abdul!“ sagte der Jobcentermitarbeiter mit der Grimasse. Ich stellte mich aufrecht hin und lief hinter ihm zu seinem Büro her, dabei roch ich den von mir ausbrechenden Schweiß vor lauter Nervosität. Er zog mich in Rechenschaft wie der Schulrektor, der in meinem Unterbewusstsein innewohnt. Ich konnte ihn vor meinen Augen sehen, wie er einen Jungen auf seinen Füßen schlägt. Ich erklärte ihm, dass ich die Ausbildung, die er für mich aussuchte, nicht möchte. Doch er hörte mir nicht zu. Er gab mir Unterlagen, die ich ausfüllen soll und Proschüre für einen Kurs, der mir dabei helfen würde, einen Job zu finden.
Ich stand auf, sagte „Dankeschön!“ und verließ den Raum.
Letzte Woche erzählte mir eine Freundin auf WhatsApp über die Preise von Gemüse in Damaskus, und dass sie seit einer Woche keinen Diesel für das Heizen hatte. Ich bot ihr 50€ an. Sie fluchte mich „… Deine Mutter, ich versuche mich, bei dir zu entlasten. Ich bettle nicht von dir“. Sie legte ihr Handy auf und antwortete seitdem nicht mehr auf meine Anrufe.
Auf Facebook sah ich hunderte von Likes auf einem Beitrag von einer Dame, die über ihren Erfolg in der Sprache und an der Universität redete. Hunderte Likes auf einem anderen Beitrag von einer Frau, die die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen hatte. Hunderte traurige Smilies auf einem Beitrag mit einem Foto eines im Krieg umgekommenen Mannes. Seine Mutter stellte sein Foto als Profilbild. Fünfzig lachende Smilies auf dem Video des sich selbsternannten neuen Prophets.
Eine Million wütende Smilies auf einem Beitrag einer Frau, die nach den Schritten des Scheidungsprozesses nachfragt. Werbungen für syrische Lebensmitteln. Traurige Smilies für einen jungen Mann, der nach einem guten arabischsprachigen Psychotherapeuten sucht. Tausende Teilungen für die Spendenkampagne für die Menschen in den Flüchtlingslagern kurz bevor sie im Winter sterben.
„Das ist mein neues Gedächtnis“. Sagte Mira oder Migha*, wie sie der Lehrer nennt.
Mira ist meine neue Freundin. Ich lernte sie in Berlin vor drei Jahren kennen und immer noch bezeichne ich sie als die neue Freundin. Die Alten sind nämlich dort in Syrien und altern in meinem Herzen. Ich habe mit ihr mit Absicht und Vorbedacht eine Freundschaft geschlossen, als ich bemerkte, dass meine Welt zu einer Blase wurde und ich in der Luft außenseits dieser Blase hinge.
Ich fing an, mich an allen festzuhalten, um nicht herunterzufallen.
Zufällig lud mich eine Freundin, die Künstlerin ist, zu einer Gruppe Frauen mit verschiedenen Hintergründen und Altern ein. Sie trafen sich dort, um über ihre Erinnerungen über die Flucht und die letzten Orte, an denen sie waren, zu reden. Es gab Theatersketches, Malerei, Spiele und Schreibsessions. Es gab so viele Geräusche und Zuviel Lärm.
Ich habe mich nach dieser Erfahrung verändert. Mehrere Ramas** sind in meinem Leben aufgetaucht.
Jahre später, habe ich mich mehrere Frauenkreise angeschlossen. Ihr Ziel war, sich offenbaren zu können über verschiedenen Themen und auf verschiedenen Wegen, je nach der Vision jeder Organisatorin solcher Sitzungen.
Am Anfang habe ich darüber gezweifelt, was neu daran sein sollte. Sie offenbarten sich, redeten und gingen zurück, wohin auch immer.
Es funktioniert allerdings nicht so! Denn jedes Mal, wenn wir was aussprechen, verändern wir uns. Das sage ich jetzt mit großer Sicherheit, nachdem ich diese Erfahrung mehrmals gemacht habe und verschiedene Reaktionen auf ähnliche Geschehnisse sah und hörte. Ich beobachtete, wie jede Frau anders mit der Zeit umgeht und das Thema Zeit konzipiert. Wie sie ihre Lebensgeschichte und die Veränderungen in ihrem Leben zwischen Syrien und Deutschland erzählt. Für jede Thematik trafen sich die Frauen für eins bis zu zwei Monate in mehreren Sitzungen. Sich unter einem Titel zu treffen oder für ein bestimmtes Thema, was das Motto des Treffens ist, mag klischeehaft sein. Allerdings führte die Kontinuität dieser Sitzungen zu einer Offenbarung unerwarteter und unzähliger Bedeutungen und Ebenen für nur einen einzigen Begriff.
„Ich war auf dem Weg zum Markt, als sie mich anriefen und mir mitteilten: `Sie nahmen deinen Bruder fest, ich schwöre, er hat nichts gemacht´“.
„Ich vermisse nichts in Syrien. Es reicht, dass es hier Gesetzgebung und Freiheiten gibt“.
„Ich werde so lange lernen und arbeiten, bis ich eingebürgert werde. Ich werde ihnen beweisen, dass wir diesem Land keine Last sind“.
„Ich fi.. sie und ihre Staatsbürgerschaft“.
„Meine Nachbarin fand das Foto ihres Sohnes unter den Caiser-Fotos***. Ich werde mir die Fotos nicht anschauen. Mein Sohn lebt sicher noch“.
In dieser Offenbarungsgruppe, dieser Szene mit einer heterogenen Frauenmenge, in der keine Frau alleine in dem Lichtfleck steht, schweben wir alle über unsere Luftblasen.
Dann wird die Szene aufgelöst und die schwammigen Details werden klarer. Eine Frau erzählt ihre Geschichte knapp und grob und auf einmal fließt die Geschichte aus ihr wie Wasser! Unkompliziert, schmerzhaft und schmerzend. Die anderen Frauen hören zu, dann fließt aus jeder ihre Geschichte hinaus. Die Erzählerin teilt Geschehnisse mit den kleinsten Details und Emotionen mit. Sie beschreibt ihre Gefühle damals bei dem Geschehen dieser Geschichten mit, und wie ihre Gefühle aktuell sind. Als würden Momente des Kriegs, der Trauer, der Reise, des Ankommens und danach des Wartens manifestiert werden.
Die Fähigkeit dieser gemeinsamen Flächen, in denen solche Offenbarungen stattfinden, Änderungen zu bewirken, ist für mich erstaunlich. Nicht nur weil die Frauen ihr sich ähnelndes Leid und Schicksaal teilen und dadurch miteinander solidarisieren, sondern weil innerhalb solcher Fläche tausende Lebenszeugen und wahre Begebenheiten von Lebensgeschichten der Frauen dokumentiert werden; von überlebenden, siegenden, besiegten und umgebrachten Frauen und ihren Familien Städten und Flüchtlingsheimen.
Ich habe zuletzt in einem solchen Frauenoffenbarungstreffen von Women For Common Spaces teilgenommen, die den Teilnehmerinnen ermöglicht ihr Geschichten niederzuschreiben. Die Geschichten werden innerhalb von Heftchen gesammelt und veröffentlicht. Das verleiht mir ein wenig Gerechtigkeitsgefühl.
Diese Geschichten, die nicht in den Nachrichten vorkommen, nicht an den Universitäten unterrichtet werden, vielleicht nicht der Psychotherapeut*innen auffallen und sicherlich dem Uno-Generalsekretär nicht besorgen, die auch nicht von den Siegenden in die Geschichte niedergeschrieben werden, werden hier tatsächlich aufgeschrieben. Sie hören hiermit auf, nur erzählte Erinnerungen zu sein. Sie werden von Menschen gelesen, die erfahren werden, was in Syrien, mit dem Wissen der ganzen Welt, geschah. Diese Menschen werden ein bisschen mehr über die neuen dunklen Nachbarn erfahren.
*Das Buchstabe R wird auf Arabisch gerollt, während es auf Deutsch [gh] ausgesprochen wird.
**Plural von Rama, ein Mädchenname.
*** Caesar ist der Deckname eines öffentlich nicht bekannten syrischen Fotografen, der Bilder veröffentlichte, die die Menschenrechtsverletzungen der syrischen Regierung im Rahmen des Bürgerkriegs belegen sollen.
„Mein Sohn ist in der Kita hingefallen. Sie halfen ihm nicht richtig. Rassisten“.
„Ich habe die B2 Prüfung drei Mal wiederholt und kam nicht durch“.