Ihr Zeigefinger wischt auf dem Handybildschirm wie eine Klinge nach rechts und links über Porträts blonder Männer. Ein Blick reicht ihr mittlerweile, um zu erkennen, wer ihr Herz oder auch nur ihr Begehren berühren kann. „Digitales Schafott“ nennt sie ihren Finger. In horizontaler Bewegung verwirft er ein Gesicht nach dem anderen, dann wieder gönnt sie einem eine Minute und liest seine Selbstbeschreibung. Sie muss lächeln. Sofort erkennt sie, wer von ihnen neu auf der App und wer schon länger dabei ist. – Lassen wir sie selbst berichten:
„Es war meine letzte Zuflucht. Einen Account habe ich auf Bumble und einen anderen auf Tinder eröffnet. Ich gestehe verschämt: Ich will nicht einsam sterben. Mit dieser großartigen Erkenntnis stehe ich natürlich nicht ganz allein da. Panik vor der Einsamkeit war wahrscheinlich immer die eigentliche Triebkraft dafür, dass Millionen Beziehungen weitergingen oder überhaupt erst begannen.
Ich war einmal verheiratet – mit einem Dummkopf, der in mein Leben gestolpert war und den ich noch rechtzeitig verlassen habe, bevor er es aus Versehen zertrampeln konnte. Und trotzdem suche ich jetzt wieder einen Mann – einen, der es mit meinem Herz und meinem Verstand aufnehmen kann.
Ich habe viele Freundinnen, ich spreche viel und ich stecke, wie meine Mutter immer so herablassend und schnippisch sagte, meine zu große Nase in alles – aber nicht wegen der Dinge, in die ich sie steckte, sagte sie das, sondern weil meine Nase wirklich sehr groß war. Meine Mutter glaubt übrigens bis heute, dass ich nur deswegen so spät geheiratet habe, und da gebe ich ihr Recht, denn genau sieben Monate nach meiner Nasenkürzungs-OP vermählte ich mich! Ein ahnungsloser plastischer Chirurg (eine blöde Bezeichnung für einen Schönheitsoperateur, sie klingt wie „Plastikchirurg“, und deshalb benutze ich sie hier auch!) hatte mir bei einem verpfuschten Eingriff ein Nasenloch verstopft, so dass ich nur noch halb so viel Luft einatmen und nur noch halb so viel Wut ausschnauben konnte wie zuvor. Beim Schlafen bekam ich Erstickungsanfälle und schnarchte. Und so kam es, dass meine kosmetische Nasenoperation zuerst dazu führte, dass ich heiratete, und später, dass ich mich wieder scheiden ließ. Zumindest bestand da ein Zusammenhang.
Meine erwähnten zahlreichen Freundinnen halfen mir irgendwie bei allem, was ich durchmachte und erlebte. Eine machte mich mit meiner ersten Affäre bekannt, eine andere mit meinem späteren Mann und eine weitere lehrte mich das Liebesleben … Ich werde hier nichts aussparen, denn mein echter Name wird ja nicht veröffentlicht. Und ihr werdet nie herausfinden, wer ich wirklich bin, denn meine Geschichte ist auch die Geschichte vieler anderer Frauen. Auch sie haben wie ich von Zeit zu Zeit ein wenig familiäre Gewalt erlebt, die „nicht so gemeint“ war, sei es vom Vater, vom Bruder, von einem Onkel oder vom Nachbarn am Ende der Gasse. Erziehung geht nun mal nicht ohne Regeln, und diese Regeln haben Konsequenzen.
Wie alle meine Freundinnen bekam auch ich das mir zustehende Maß an Belästigung ab. Das bisschen Schönheit, dessen ich mich erfreuen durfte, versetzte immer irgendwo einen Kranken in Verzückung. Zuweilen merkte ich gar nicht, dass das, was ich erlebte, eine Grenzüberschreitung war, weil ich bestimmte Verhaltensweisen damals als normal empfand. Sie waren zwar unangenehm, aber das Beste war, sie zu ignorieren. Die Belästigung hat mich gelehrt zu schweigen. Durch die Nase schluchzte ich einen Teil meiner Wut hinaus, den Rest begrub ich in meiner Lunge und meinem Herz.
Hier und heute muss ich mich um keine Nachbarn und Bekannten mehr kümmern. Ich habe nur ein paar Freundinnen, die ebenso einsam sind wie ich. Alle Versuche, im Deutschkurs oder in sozialen Netzwerken andere syrische Flüchtlinge kennenzulernen, scheiterten oder versandeten, und mit Arabern anderer Nationalität war es nicht besser.
Ich habe ein kleines Zimmer und bin auf Arbeitssuche, Hauptsache es werden keine ausgeprägten Deutschkenntnisse verlangt. Mein Unidiplom wird nicht anerkannt und ist somit wertlos, mein Sachbearbeiter im Jobcenter ist immer missgelaunt und selbst im Beautysalon lässt sich keine Mitarbeiterin zu einem Lächeln hinreißen, nur weil eine Kundin da ist, die sich etwas aufhübschen lassen will. Sie schnippeln an meinen Haaren und meinen Fingernägeln herum und beschneiden mir dabei in Wirklichkeit meinen kleinen Traum vom Schönsein, und ein vernichtendes Gefühl der Sinnlosigkeit überkommt mich, gepaart mit dem Gedanken: „Ich werde alleine alt – hier in diesem Land, das keine Notiz von mir nimmt.“
Wäre ich eine Tierfreundin, würde ich mir eine Katze oder einen Hund anschaffen, aber ich habe eine Phobie vor Schmutz, Gerüchen und Tierhaaren. Ich könnte ein Kind bekommen, aber schon in meinen Flitterwochen habe ich mir geschworen, mich niemals auf diese Weise schuldig zu machen. Und könnte ich meine geschlechtliche Orientierung ändern, würde ich das Herz einer jungen Frau erobern, die mich samt meiner Nase liebt und begehrt, aber auch das habe ich schon erfolglos ausprobiert. Dürfte ich ein Kind adoptieren, so würde ich auch das tun, aber auf die Liste derer, die dafür in Frage kommen, habe ich es auch nicht geschafft.
Für ein paar Jahre Genuss, Wärme und Zweisamkeit kommt mein Körper noch in Frage. Mir verbleibt nicht mehr viel Zeit, um sicherzustellen, dass es nicht eines Tages in arabischen Nachrufen mitleidig heißen wird: „Sie starb einsam im Exil“, „Du warst die Mutter, die mich nicht geboren hat“ oder „Du warst mir die Schwester, die meine Mutter nicht zur Welt gebracht hat“.
Mein Leben ist belanglos und ereignisarm, aber ich bettle hier nicht um Aufmerksamkeit und ich sorge mich auch nicht vor frömmelnden Moralisten und Sittenwächtern, die mein Benehmen für unschicklich halten. Solche Herren habe ich schon lange im wörtlichen Sinn per Knopfdruck blockiert (ich bin seit einem Jahr und sieben Monaten auf Datingportalen aktiv). Mir fehlt eigentlich nur, dass ich einmal in den Genuss von deren verdatterten Gesichtern komme.
Am Anfang suchte ich noch ganz naiv und eifrig nach Liebe und hatte eine Riesenangst davor, dabei zu scheitern. Was wäre, wenn ich Ihn hier fände und er mir gefiele? Endlich hätte ich eine Geschichte zu erzählen und könnte seufzend kleine Wunden lecken. Ganz ernst habe ich die Sache genommen, habe freimütig über mich geschrieben und meine ehrlichsten und innersten Gefühle zum Ausdruck gebracht, war aber auch so vorsichtig, ein Foto von mir ins Profil zu stellen, auf dem ich nicht zu erkennen war: Mein Gesicht hinter ausgestreckten Fingern mit blau lackierten Fingernägeln und Sonnenbrille.“
Was danach geschah, hatten alle erwartet außer sie selbst. Es kam zu ein paar vergeigten Begegnungen, und sie bekam ziemlich viele anzügliche Zuschriften, die sie als beleidigend und nicht nur virtuell so belästigend empfand, dass sie zuweilen weinen musste. Heute lacht sie über so etwas, leitet es an Freundinnen weiter und versucht kaum noch zu verstehen, was Männern so durch den Kopf geht. Auf den Rat einer Freundin hin wechselte sie die Dating-App, meldete sich von Zeit zu Zeit aber auch wieder davon ab, sei es, weil sie gerade mit jemandem etwas laufen hatte, was sie nicht gefährden wollte, oder einfach aus einem Übermaß an Frustration, von dem ihre Augen zeugen.